Opéra comique und Tragédie lyrique: Die französische Oper

Opéra comique und Tragédie lyrique: Die französische Oper
Opéra comique und Tragédie lyrique: Die französische Oper
 
Tragédie lyrique ist die vor allem im 18. Jahrhundert gebräuchliche Bezeichnung für die französische Oper mit durchgehend gesungenem Text. Ihre für länger als ein Jahrhundert gültige Form erhielt die neue Gattung, damals noch »Tragédie« oder »Tragédie en musique« genannt, durch den Komponisten Jean-Baptiste Lully und den Dichter Philippe Quinault erstmals mit »Alceste« (1674). Den rechtlichen Rahmen bildete ein 1672 an Lully vergebenes königliches Privileg zur Gründung einer »Académie Royale de Musique« in Paris mit dem alleinigen Aufführungsrecht für »durchkomponierte« Stücke, das der später zumeist pauschal als »Opéra« bezeichneten Institution bis 1864 erhalten blieb.
 
Zur italienischen Oper, die man in Paris seit 1645 durch Gastspiele und Auftragswerke kannte, bezog die Tragédie lyrique eine entschiedene Gegenposition, indem sie sich einerseits an der klassizistischen Regelpoetik des zeitgenössischen französischen Sprechdramas Corneilles und Racines, andererseits an älteren, vor allem höfischen Formen des französischen Musik- und Tanztheaters (»Ballet de cour«) orientierte. Anders als die im späten 17. Jahrhundert formal recht freie italienische Oper besaß die Tragédie lyrique ein festes dramaturgisches Schema im Rahmen einer fünfaktigen Anlage mit einem Prolog als höfischem Bezugspunkt der Handlung. Vorherrschend war ein eng an die Sprachprosodie angelehntes Deklamationsmelos, das gesanglicher Entfaltung nur geringen Raum ließ. Um so größere Bedeutung kam dem Orchester zu, das in klangmalerischen Naturschilderungen, etwa dem berühmten »Seesturm« in Marin Marais' »Alcione« (1706), zum eigenständigen dramatischen Ausdrucksträger avancierte. Nach den Kategorien der zeitgenössischen rationalistischen Kunstauffassung der Franzosen erschien die Oper, da durch das gesungene Wort der Realitätssphäre entrückt, als Theater des »Wunderbaren« schlechthin, dem allein mythologisch-fantastische Stoffe angemessen sein konnten. Ihre vollkommenste theatralische Entsprechung fand diese Ästhetik des »Merveilleux« zumal in den an Aktschlüssen platzierten, alle musikalischen und szenischen Ausdrucksmöglichkeiten bündelnden »Divertissements«, in denen das Ballett eine herausgehobene Rolle spielt.
 
Um 1700 spaltete sich von der Tragédie lyrique das »Opéra-ballet« ab, das aus einer Folge verschiedener, wenn auch thematisch verwandter Handlungen bestand, die man »Entrées« nannte und die unter einem Gesamttitel aufgeführt wurden, zum Beispiel André Campras »L'Europe galante« (1697). Charakteristisch für das neue Genre waren zeitgenössische Sujets, die Integration komischer Szenen sowie die Verstärkung des tänzerischen Elements. Einen Sonderfall des Opéra-ballet bildete das »Ballet-historique« mit antiken oder historischen Stoffen ohne komische Szenen, etwa François Colin de Blamonts »Les fêtes grecques et romaines« (1723) oder Jean-Philippe Rameaus »Les Indes galantes« (1735). Durch Umstellung und Austausch der Entrées lockerten sich die Werkstrukturen oder lösten sich auf in einer »Fragments« genannten freien Folge einzelner Entrées aus verschiedenen Werken.
 
Da auch innerhalb der Tragédie lyrique der Stoffkanon eine Erweiterung ins Komische (Rameaus »Platée«, 1745) und Historische (François-André Philidors »Ernelinde, Princesse de Norvège«, 1767) erfuhr, zeigte die durchkomponierte französische Oper um die Mitte des 18. Jahrhunderts ein verwirrend vielschichtiges Bild. Dazu kam, dass längst auch eine Angleichung zwischen französischer und italienischer Oper stattgefunden hatte, die allerdings in den immer wieder aufflackernden ästhetischen Kontroversen zwischen den Anhängern der beiden Richtungen beharrlich nicht zur Kenntnis genommen wurde. So erweist sich die Geschichte der Tragédie lyrique auf weite Strecken als ein Prozess der zunehmenden Musikalisierung der Gattung unter direktem italienischen Einfluss, vor allem in den Werken Rameaus (erstmals mit »Hippolyte et Aricie«, 1733). Im Spannungsfeld dieser ästhetischen Neuorientierung hat auch die durch Uraufführungen in Wien eingeleitete Opernreform Christoph Willibald Glucks ihren historischen Ort.
 
Anders als bei der Tragédie lyrique bezeichnete man mit Opéra-comique zunächst keine musikdramatische Gattung im engeren Sinne. Vielmehr diente der Begriff als Sammelname für Stücke, in denen musikalische Nummern durch gesprochene Dialoge verbunden sind. Das strengstens gehandhabte Privileg der Académie Royale de Musique verhinderte für lange Zeit die institutionelle Etablierung eines »komischen« französischen Musiktheaters, das zunächst in provisorischen Spielstätten auf Straßen und Märkten (»Théâtre de la Foire«) existierte. Da solche Auflagen nur einen niedrigen Musikanteil zuließen, der sich weitgehend auf Vaudevilles oder einfache Liedmelodien beschränkte, denen man neue Texte unterlegte, kam den Textautoren der Stücke (unter anderem Alain René Lesage, Charles Simon Favart) weit größere Bedeutung zu als den Komponisten (Jean Claude Gillier, Michel Corrette), deren Aufgabe sich meist aufs Arrangieren beschränkte. Die erzwungenen Einschränkungen zeitigten jedoch vielfach originelle dramaturgische Lösungen, etwa im Spiel mit den Bedeutungsebenen von Text und Musik in wechselnden Kontexten. Ältere Theatergattungen wie »Parade« und »Pantomime« mischten sich mit Parodien aktueller Opern. Zusätzliche dramatische Vielschichtigkeit gewannen die Stücke durch die Figur des oder der ländlichen Naiven, die eine Fülle meist erotischer Anspielungen erlaubte.
 
Eine entsprechende musikalische Entwicklung vollzog die Gattung erst nach der Jahrhundertmitte unter dem Einfluss der Opera buffa, die man in Paris anlässlich des Gastspiels einer italienischen Truppe 1752 kennen lernte und die eine ästhetische Debatte auslöste, die unter der Bezeichnung »Buffonistenstreit« (»Querelle des bouffons«) in die Musik- und Theatergeschichte eingegangen ist. Als Folge entstanden nun auch in französischer Sprache komische Opern mit eigenständiger Musik, zunächst Jean-Jacques Rousseaus »Le devin du village« (1752), später Werke von Antoine Dauvergne, Egidio Romualdo Duni, Philidor und vor allem Pierre-Alexandre Monsigny, dessen »Le Déserteur« (1769) auf einen Text von Michel-Jean Sedaine die Opéra-comique zum ernsten Genre hin öffnete und die Tradition der »Rettungsoper« begründete, die über André Modeste Grétrys »Richard Cœur-de-Lion« (1784) und Werke der Revolutionsepoche bis zu Beethovens »Fidelio« (1805/1806/1814) reicht.
 
Prof. Dr. Sabine Henze-Döring

Universal-Lexikon. 2012.

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